Das erste Mal im Präpsaal

Präpsaal: eine unglaubliche Erfahrung

Zugegeben, ich hatte wirklich Angst vor dem Präparierkurs. Einen echten toten Menschen sehen, ja sogar berühren – das war für mich verständlicherweise abschreckend. Ich hatte noch nie zuvor eine echte Leiche gesehen und konnte mir daher nicht vorstellen, wie ich damit umgehen würde. Würde mir schlecht werden? Würde ich danach Albträume haben? Würde ich mich überhaupt trauen, den Körper zu berühren? Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Um jedenfalls das Gefühl zu haben, vorbereitet zu sein, las ich unendlich viele Berichte im Internet. Jetzt, nachdem ich bereits viele Stunden im Präpsaal verbracht habe, kann ich euch berichten, was ich erlebt habe. Und es war wirklich viel weniger schlimm als gedacht und hat sogar ein bisschen Spaß gemacht!

Aber fangen wir von vorne an, mit dem Einführungstag im ersten Semester. Der Präpsaal, wie das Gebäude liebevoll genannt wird, liegt versteckt hinter dem Hauptgebäude. Über der Tür prangt ein großer Schriftzug mit einem Spruch, der die Funktion des Präpkurses ziemlich gut zusammenfasst: "Mortui vivos docent" ("Die Toten lehren die Lebenden", für alle Nicht-Lateiner unter uns). Am Tag der Einführung achtete ich besonders darauf, ein ordentliches Mittagessen zu mir zu nehmen (nur für den Fall, dass mein Kreislauf nicht versagte) und nicht gerade meine Lieblingskleidung anzuziehen. Unter dem eigentlichen Präpsaal im Keller befinden sich die Umkleide und die Spinde, wo wir dann unsere Kittel anzogen. Das war schon ein tolles Gefühl, das erste Mal im weißen Kittel zu stehen. So ging ich mit den anderen 150 Medizinstudenten nach oben. Der Saal entsprach schon ein wenig meinen Vorstellungen: silberne schmale Tische, auf die perfekt ein menschlicher Körper passte, darüber flächige Leuchten und an der Decke große Rohre. Aber von Leichen keine Spur. Erleichterung machte sich in mir breit. Was mich aber noch mehr erstaunte, war, dass der Saal zwar einen eigenen Geruch hatte, aber längst nicht so schlimm, wie ich in den Internetberichten oft gelesen hatte. Es roch nicht nach Tod oder Verwesung, sondern mehr nach etwas Chemischem. Der Geruch von Formaldehyd, wie wir später erfuhren. Ein Geruch, der mich die nächsten Semester noch begleiten würde, auch außerhalb des Präpsaals. Zuerst nahmen wir dann auf Hockern Platz und hörten uns die Begrüßung und Erklärungen an. Sämtliche Mitarbeiter des Instituts wurden vorgestellt. Erst eine halbe Stunde später kam dann der wirklich aufregende Teil.

Studierende aus höheren Semestern brachten uns in Kleingruppen verschiedene Präparate. Ich hatte gedacht, ich würde im ersten Moment geschockt sein oder Ekel spüren, doch es war einfach aufregend, als sie vor uns einen angeschnittenen Fuß, ein Gehirn und sogar einen ganzen Kopf stellten! Der Kopf war von den drei Präparaten zugegeben am gruseligsten, da das Gesicht komplett erkennbar war. Tatsächlich wirkte das Gesicht auch so, als würde der Mensch schlafen. Die Augen waren geschlossen, und es sah sehr friedlich aus – nur der Körper fehlte. Farblich hatte ich mir die Körperteile ganz anders vorgestellt. Irgendwie mit mehr Farbe und etwas blutiger. Aber alle Teile waren blassgelb bis gelb. Ich glaube, dass die Farbe alles unwirklich machte. Mir war nicht so präsent, wie ich befürchtet hatte, dass es sich um echte menschliche Teile handelte. Einige Kommilitonen griffen sofort nach den Präparaten. Anfangs war ich noch zurückhaltend, doch traute mich dann auch, das Gehirn in die Hand zu nehmen. Das war ein unglaubliches Gefühl! Ich kann nun behaupten, dass ich ein echtes Gehirn in der Hand gehabt habe! Den Kopf schaute ich mir dann doch noch genauer an. Es erstaunte mich, wie gut die einzelnen Haare erhalten waren. Jeden Bartstoppel konnte ich sehen, so wie ihn der Mensch rasiert hatte. Auch jedes Nasenhaar und jede Falte war sichtbar. Das machte mir dann wieder mehr bewusst, um was es sich in meiner Hand handelte.

Später konnten wir dann selbst noch die großen und kleinen Bottiche anschauen, wo die verschiedenen Körperteile gelagert wurden. Da gab es von Sagittalschnitten des Fußes bis zum Querschnitt des Kopfes alles. In den nächsten Wochen und vor allem vor dem anstehenden Anatomietestat wurde der Präpsaal öfter von uns besucht als die Bibliothek. Lernen am echten Körper ist um einiges lehrreicher als die Theorie in den Büchern. Erstaunlich schnell wurde es für uns zur Normalität, dass wir uns einfach Ellenbogengelenke, Wirbelsäulen oder Hände herausfischten und sie auf Präpariertischen ansahen. Außerhalb des Präpsaals, wenn ich Freunden von meinen Erlebnissen erzählte, reagierten alle ähnlich angeekelt und entsetzt. Dagegen herrschte im Präpsaal eine derartige Normalität, dass es wie eine andere Welt war. Da wurde dann auch schnell mal durch den Saal gerufen, wer denn gerade noch einen Fuß frei hätte (Füße waren nämlich äußerst begehrt und gerade in der Woche des Anatomietestats so gut wie nie da). Oder eines Morgens, als ich mit Kommilitonen gegen acht halbverschlafen im Präpsaal stand und wir in den großen Waschbecken mehrere Torsi mit Köpfen sahen, die dort wohl zum Waschen aufbewahrt wurden.

Ja, im Präpsaal erlebt und sieht man wirklich Dinge, die nur sehr wenige Menschen jemals in ihrem Leben sehen werden. Ich meine, wie viele Leute wissen bitte, wie ein Hüftgelenk von innen aussieht? Oder wissen, wie sich ein Muskel anfühlt? Das sind Erfahrungen, die man nur dank der Körperspender sammeln kann. Ich bin für diese Erfahrungen so dankbar, dass ich bereits so viel über unseren Körper lernen durfte. Diese Dankbarkeit und das Interesse haben meine anfängliche Angst ersetzt. Klar, es bleibt immer noch eine ungewöhnliche Situation, Körperteile verstorbener Menschen anzufassen, und da ist es auch völlig okay, etwas mal nicht anfassen zu wollen. Aber am Ende ist es gar nicht so schlimm, und man kann sich sehr auf den Präpkurs freuen, denn diese Möglichkeiten erhält man nirgends sonst im Leben.

Im ersten Semester ging es nur um den Bewegungsapparat, und daher haben wir noch keine ganzen Körperspender gehabt oder selbst präpariert. Diese Lerneinheit folgt dann bei uns im dritten Semester mit dem bekannten Präparierkurs. Ich bin sehr gespannt, wie das werden wird.


Bis dahin, macht's gut!

Eure Flora 








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